Sind wir die Schöpfer unserer Realität?
von Jörg Starkmuth
Erschienen in Die Andere Realität, Ausgabe 5/6, 2005
Wer sich ein wenig in der Esoterik-Szene umsieht, stößt eher früher als später auf die Idee, dass wir selbst es sind, die unsere Wirklichkeit – nicht nur die subjektive, sondern auch die „Außenwelt“ – kraft unseres schöpferischen Geistes erschaffen oder zumindest erheblich beeinflussen können. Bestseller wie die Seth-Bücher und die Gespräche mit Gott haben diese Sichtweise ebenso populär gemacht wie die Bestellungen beim Universum oder Das LOLA-Prinzip.
Diese Idee ist natürlich reizvoll, verspricht sie doch die Möglichkeit, die eigene Wirklichkeit weitaus umfassender zu steuern, als es mit bloßen äußerlichen Taten möglich wäre – der Weg zum Glück scheint damit nur mehr eine Frage der gezielten Lenkung der eigenen Schöpferkraft zu sein, durch die die vielen scheinbaren Zufälle in unserem Leben in die gewünschte Richtung beeinflusst werden können.
Wie realistisch ist diese Einschätzung? Und was nicht minder interessant ist: Inwieweit untermauert die Naturwissenschaft die These vom schöpferischen Bewusstsein?
Wirft man einen Blick in die moderne Physik, so stellt sich heraus, dass Wirklichkeit und Bewusstsein tatsächlich kaum zu trennen sind. In der Quantenphysik werden Elementar„teilchen“ – die Grundlage der materiellen Welt – nicht als substantielle Objekte, sondern als Wahrscheinlichkeitswellen beschrieben. Erst der Akt der Beobachtung lässt aus einem solchen unscharfen und im Raum verteilten Gebilde ein reales „Teilchen“ an einem bestimmten Ort entstehen. Wie dieser Übergang vom „Virtuellen“ zum „Realen“ genau funktioniert, ist bis heute strittig.
Die am weitesten verbreitete „Kopenhagener Deutung“ wirft gewisse logische Probleme auf, daher wurden verschiedene alternative Erklärungsmodelle entworfen. Die vielleicht populärste ist die „Viele-Welten-Deutung“, die von der Existenz zahlloser paralleler Realitäten ausgeht. In jeder dieser Realitäten haben die Elementarteilchen klar definierte Eigenschaften. Solange allerdings niemand ganz genau hinsieht, überlagern sich viele dieser Realitäten zu dem unscharfen Gebilde, das als Quantenwelle (Wahrscheinlichkeitswelle) bekannt ist. Erst die exakte Beobachtung einer bestimmten Teilcheneigenschaft zwingt diese zum Erscheinen – mit anderen Worten: Die alternativen Realitäten werden vom Beobachter ausgeblendet, sodass nur noch eine übrig bleibt. Der Beobachter hat diese Wirklichkeit also tatsächlich „erschaffen“, indem er sie aus einer Vielzahl paralleler Realitäten (bewusst oder unbewusst) „ausgewählt“ hat. (Anmerkung des Autors: Diese Zusammenhänge habe ich später präzisiert – siehe dazu diesen Artikel.)
Mehrere Realitäten parallel – wie soll das gehen? Physikalisch ist das kein Problem: Wir benötigen lediglich ein paar zusätzliche Dimensionen. So wie sich in der dritten Dimension beliebig viele zweidimensionale Flächen übereinander anordnen lassen (wie ein Papierstapel), so können in einem höherdimensionalen „Überraum“ tatsächlich beliebig viele dreidimensionale Räume oder eben auch zahllose Varianten unseres Universums nebeneinander existieren – ich nenne diesen Raum daher Multiversum. Beziehen wir auch die Zeit ein (die ja auch nichts anderes als eine Dimension ist), so lassen sich im Multiversum sämtliche möglichen Entwicklungsgeschichten des Universums unterbringen.
Wenn nun unser Bewusstsein tatsächlich Realität erschafft, indem es eine dieser Varianten als seine erlebte Realität „auswählt“, dann können wir uns das Bewusstsein eines Individuums als einen (körperlosen) reinen Beobachter vorstellen, der durch das Multiversum wandert und an jeder Position seines Pfades eine neue Variante der Welt wahrnimmt und damit als seine persönliche Wirklichkeit (einschließlich seines materiellen Körpers) erschafft. Durch die sinnvolle Anordnung der erlebten Wirklichkeiten auf einem durchgehenden Pfad entsteht das, was wir als Zeitablauf erleben. Aus der höherdimensionalen Perspektive hingegen bewegt sich hier ausschließlich das beobachtende Bewusstsein, während die erlebte „Außenwelt“ ewig konstant bleibt – das Bewusstsein nimmt lediglich in jedem Moment einen anderen Ausschnitt des Möglichkeitsraumes wahr (so wie sich die Landschaft beim Blick aus einem fahrenden Zug scheinbar ständig „verändert“, obwohl sie sich nicht wirklich bewegt oder ihre Form ändert).
Wie steuern wir uns selbst durch diesen Raum der unbegrenzten Möglichkeiten? Wenn an den „Bestellungen beim Universum“ etwas dran ist, muss ja eine gezielte Navigation möglich sein. Tatsächlich gibt es wissenschaftlich einwandfreie Untersuchungen, die einen solchen (gezielten) direkten Einfluss des Bewusstseins auf die Realität nachweisen: In Versuchen, bei denen Probanden per Zufallsprozess erzeugte Zahlen beeinflussen sollten, wurden statistisch hochsignifikante Verschiebungen des Mittelwertes nachgewiesen. Zwar war der Effekt so minimal, dass er erst beim Aufaddieren tausender Versuche sichtbar wurde – dennoch veränderte sich der Mittelwert bei den meisten Versuchspersonen in die beabsichtigte Richtung.
Es gibt eine Interpretation der Quantentheorie – die sogenannte transaktionale Deutung –, die, wenn man sie mit der Idee der parallelen Realitäten kombiniert, ein interessantes Erklärungsmodell bietet, wie diese gezielte Auswahl bestimmter Realitätsvarianten funktionieren könnte. Demnach sendet jede bewusste Beobachtung (also Wahrnehmung) Wellen im Möglichkeitsraum aus, die sich in die Zukunft und in die Vergangenheit ausbreiten. Trifft nun eine in die Zukunft laufende Welle auf eine „passende“ Welle, die ihr aus einer der zahllosen möglichen Zukunftsvarianten entgegenkommt (denn auch in der Zukunft finden ja bewusste Beobachtungen statt, die Wellen in die Vergangenheit zurücksenden), modulieren sich diese Wellen rechnerisch so, dass eine hohe Ereigniswahrscheinlichkeit entsteht. Damit ist für ein Individuum immer diejenige Zukunftsvariante am wahrscheinlichsten, die inhaltlich zu seiner aktuellen Wahrnehmung in der Gegenwart passt. So steuert uns unsere eigene Wahrnehmung durch das Multiversum – wir nehmen wahr, d. h., wir nehmen uns eine Wahrheit, und zwar immer die, auf die wir unsere bewusste Aufmerksamkeit richten.
Theoretisch stehen dem wandernden Bewusstein damit alle Möglichkeiten offen, seine „Außenwelt“ und damit sein Schicksal zu wählen – in der Praxis gibt es jedoch Einschränkungen. Zum einen sind wir offensichtlich so gestrickt, dass unsere Realität gewissen logischen Anforderungen genügen muss, d. h., unser Pfad durch das Multiversum darf keine allzu scharfen Kurven und schon gar keine Sprünge machen, damit unsere Lebensgeschichte widerspruchsfrei bleibt. Zum anderen stehen wir mit unseren Artgenossen in einem ständigen (bewussten wie unbewussten) Informationsaustausch, der dafür sorgt, dass unsere persönlichen Realitäten (die ja durchaus nicht ganz identisch sind) so weit zusammenpassen, dass wir in einer gemeinsamen Welt leben können. Mit anderen Worten, wir bewegen uns auf mehr oder weniger parallelen Pfaden durch das Multiversum.
Unser gemeinsamer Realitätsrahmen ist damit nichts anderes als die (gewählte) Wirklichkeit des kollektiven Bewusstseins eines „Gruppenwesens“ namens Menschheit. Dieses wiederum ist wahrscheinlich auch wieder Teil einer noch umfassenderen Bewusstseinsstruktur, die sich hierarchisch bis hin zum allumfassenden Bewusstsein aufbaut, das man „Gott“ nennen könnte.
Wenn allerdings diese höchste Bewusstseinsebene alles umfasst, was möglich ist, so ist sie zugleich vollkommen strukturlos – denn die Überlagerung aller möglichen Realitäten ergibt, technisch gesprochen, ein „weißes Rauschen“ ohne Informationsgehalt, ähnlich wie die Überlagerung zahlloser Radiosender auch nur Rauschen im Äther erzeugt. Die Buddhisten und Taoisten wissen es: Gott, das höchste Prinzip, ist endlose Leere. Aber, wie Laotse sagt: „Aus der Leere kommen tausend Dinge“ – indem sich das allumfassende Bewusstsein in Teilaspekte spaltet, die jeweils nur begrenzte Ausschnitte des Multiversums wahrnehmen (so wie ein Radioempfänger einzelne Sender aus dem Rauschen herausfiltert), entstehen Strukturen, entsteht erlebte Wirklichkeit. Somit sind auch wir Aspekte Gottes, die aktiv an der Schöpfung mitwirken.
Je stabiler ein Aspekt der Wirklichkeit, desto umfassender ist die Bewusstseinsebene, die für seine Erschaffung zuständig ist. Die Naturgesetze etwa sind sicherlich keine individuelle Schöpfung, da sie unseren gesamten Realitätsrahmen zusammenhalten. Dennoch trägt auch unser individuelles Bewusstsein zur Stabilisierung unserer Wirklichkeit bei. Ich nenne dieses Prinzip Realostat – wie bei einem Thermostaten ein Regelkreis die Temperatur konstant hält, gibt es eine simple Regelschleife, die unsere Außenwelt in normalen Bahnen hält. Sie beruht auf unserem Glaubenssystem: Ich sehe, was ich glaube – und ich glaube, was ich sehe! Wenn aber das, was wir wahrnehmen, dadurch eigentlich erst erschaffen wird, so ist klar, dass wir nur das erschaffen können, an das wir glauben – allzu starke Abweichungen (auch „Wunder“ genannt) erklärt unsere Wahrnehmung sofort für ungültig, und sie verschwinden, meist bevor wir sie überhaupt richtig bemerkt haben.
Das heißt aber auch, dass Wunder bei einem entsprechend flexibleren Glaubenssystem durchaus machbar sind. Nicht nur die zahllosen Berichte über Wundertäter und Wunderheilungen, sondern auch der Erfolg der „Bestellungen beim Universum“ sprechen dafür, dass es jedem Individuum im Prinzip möglich ist, die Flexibilität seiner „Außenwelt“ zu erweitern und erstaunliche Ergebnisse zu erschaffen. Das kann bis zur Aufhebung von Naturgesetzen reichen – hierzu muss das individuelle Bewusstsein seinen üblichen Rahmen sprengen und auf einer höheren Ebene wirken. Dies lässt sich im Prinzip bis auf die höchste, „göttliche“ Ebene ausdehnen – das Verschmelzen des individuellen mit dem allumfassenden Bewusstsein, auch „Erleuchtung“ genannt. Da wir Aspekte Gottes sind, besteht der Unterschied zwischen Mensch und Gott letztlich „nur“ in der Wahrnehmungsperspektive.
Warum nun fällt es uns meist so schwer, die Wirklichkeit zu erschaffen, die wir uns wünschen? Warum gelingen „kleine Bestellungen“ eher als die „wirklich wichtigen“? Es ist der Realostat in Gestalt unserer Überzeugungen, der uns im Wege steht – und diese basieren auf Funktionen unseres Gehirns. Aus welchem Grund auch immer haben wir (als Bewussteinsinstanzen oder „Seelen“) offenbar vor langer Zeit beschlossen, uns eng an materielle Körper zu binden und unsere Wahrnehmung weitestgehend auf die Informationen zu beschränken, die das Gehirn dieser Körper aus den über die Sinnesorgane empfangenen Daten erzeugt.
Unser Gehirn nun wurde von der Evolution entwickelt, um das Überleben eines Urmenschenrudels in der Wildnis zu sichern. Dass wir inzwischen in einer Zivilisation leben, die unser Überleben weitgehend sichert, hat auf die Gehirnfunktionen wenig Einfluss, da ein paar tausend Jahre evolutionstechnisch nur ein winziger Zeitraum sind. Wir reagieren nach wie vor auf das, was unsere Instinkte uns sagen – und diese gehen nach wie vor von einem gefährlichen Leben in einem kleinen Rudel in der Wildnis aus. So ist etwa Ablehnung durch einen anderen Menschen gleichbedeutend mit der Gefahr, aus dem Rudel ausgeschlossen und damit den Säbelzahntigern ausgeliefert zu sein. Um uns vor solchen Gefahren zu schützen, erzeugen unsere Instinkte Ängste.
Ängste wiederum lenken unsere Wahrnehmung auf drohende Gefahren (ob diese nun real sind oder – wie fast immer in der heutigen Zeit – eingebildet). Und unsere Wahrnehmung erschafft Realität! Wir können daher noch so oft einen Lottogewinn beim Universum bestellen – solange dieser Wunsch von der Angst vor Armut (für unsere Instinkte gleichbedeutend mit Verhungern oder sozialer Ausgrenzung) oder Fluchtinstinkten vor unserem Job motiviert ist und nicht von der puren Lust auf Reichtum, wird unsere Wirklichkeit immer nur das widerspiegeln, was wir eigentlich loswerden wollen.
Solange wir also nicht erkennen, dass wir in der heutigen Zeit nicht mehr wirklich in Gefahr sind (weil uns ein schier endlos großes „Rudel“ mit effektiven Sicherheitsstrukturen und Kontaktmöglichkeiten zur Verfügung steht), wird unsere Realität von unseren Ängsten bestimmt. In der Kürze dieses Beitrags leuchtet das vielleicht nicht ein, aber die neuesten Ergebnisse der Glücksforschung sprechen klar dafür, dass so gut wie alle unsere negativen Gefühle auf derartige Irrtümer unseres Gehirns zurückzuführen sind.
Es nützt also nichts, die Außenwelt durch herkömmliche oder esoterische Maßnahmen so verändern zu wollen, dass dadurch unsere Probleme gelöst werden und wir dann endlich glücklich sein können – es funktioniert nur anders herum: Wenn wir erkennen, dass wir gar keinen Grund haben, unglücklich zu sein, lösen sich die „Probleme“ (die ja gar keine sind) von selbst auf, und die Außenwelt passt sich unserer positiven Sichtweise an. Dann werden vielleicht sogar Wunder möglich – auch wenn wir sie gar nicht brauchen, um glücklich zu sein.