Interview mit Jörg Starkmuth

von Cornelia Gottwald, erschienen auf www.best-in-balance.de, Dezember 2011

Welche Erkenntnisse aus Ihrem Buch könnten 2012 für Führungskräfte für das eigene Verhalten von Bedeutung sein?

Jörg StarkmuthDa können wir zwei Ebenen unterscheiden, die allerdings ineinanderspielen. Ich möchte mit der weniger esoterischen beginnen, die in diesem Kontext auch wichtiger ist. Für jeden, der bei sich oder anderen etwas verändern oder verbessern möchte, ist es zunächst einmal wichtig zu verstehen, wie der Mensch und sein Geist auf elementarer Ebene funktionieren. Das ist der Schwerpunkt im letzten Drittel meines Buches.

Management-Konzepte sind oft wirtschaftszentriert, aber letztlich arbeiten in jeder Firma Menschen, deren Gehirn annähernd identisch mit dem eines Steinzeitmenschen ist. Wir können diese Wurzeln nicht ignorieren, sondern sollten sie verstehen und aktiv nutzen. Jede menschliche Handlung ist emotionsgetrieben, auch wenn scheinbar noch so nüchterne Überlegungen und Entscheidungen stattfinden. Ohne Emotion hätten wir keinen Handlungsimpuls. Es geht also primär um das Erkennen, welche Emotion für welches Ziel am förderlichsten ist, und wie wir diese Emotion in uns oder anderen wecken können. Gerade im Beruf handeln viele aufgrund von Vermeidungsmotivationen, also einer mehr oder weniger unbewussten Angst, beispielsweise vor dem Chef oder vor dem Rausschmiss mit all seinen befürchteten Folgen wie Geldmangel und sozialem Abstieg. Hinter all diesen Ängsten stecken Urinstinkte, die uns in Lebensgefahr wähnen, wenn das Befürchtete eintritt oder droht. Dass in unserem Land niemand stirbt oder all seine Freunde verliert, nur weil er seine Arbeit verliert, weiß der Instinkt nicht. Er geht von einem sehr begrenzten Rudel in einer Umwelt voller Säbelzahntiger aus – also passt man sich lieber dem Rudel an.

Das Dumme ist aber, dass die wenigsten Aufgaben des heutigen Arbeitslebens mit solchen Vermeidungsgefühlen gut zu meistern sind. Intellektuelle und kreative Höchstleistungen bringen wir erst dann, wenn unsere Instinkte uns in einem sicheren Rudel wohlwollender Artgenossen und in einer guten Rudelposition wähnen. Dann sind diese Sicherheitsinstinkte befriedigt, und andere Instinkte gewinnen Raum, etwa unser Spiel- und Lerntrieb, aus dem oft die besten Ideen entstehen. Dann beginnt die Arbeit Spaß zu machen, und wir bauen spielerisch Kompetenzen auf, die wiederum die eigene Rudelposition festigen. Und erst dann richten wir unser Bewusstsein wirklich voll und ganz auf das Projekt- oder Unternehmensziel aus und nicht auf das Vermeiden von potenziellem Unglück.

Damit bin ich beim zweiten Aspekt, der sich durch den esoterisch angehauchten Teil der aktuellen Lebenshilfe-Literatur zieht wie ein roter Faden: Wir erschaffen die Realität, auf die wir unser Bewusstsein richten. Ich habe in meinem Buch versucht, dieses Weltbild auf solidere Füße zu stellen, als es die typischen Glücksverheißungsbücher à la „The Secret“ tun. Ich gebe einen Überblick über die moderne Physik und ihre offenen Fragen und baue darauf unter Einbeziehung grenzwissenschaftlicher und spiritueller Erfahrungen ein Weltbild auf, in dem Realität – die subjektive und auch die sogenannte „objektive“ – ein Produkt von Bewusstsein ist. Bewusstsein ist demnach kein Gehirnprodukt, sondern ein universelles Prinzip, das weit über uns Individuen hinausreicht und letztlich alles umfasst bzw. hervorbringt. Erst im Zusammenspiel mit dem Gehirn entsteht daraus unser individuelles Alltags-Ich mit seinem eher begrenzten Einfluss auf die Realität als Ganzes. Wer sich aber als Individuum konsequent auf sein Ziel fokussiert, bringt sich damit innerhalb des kollektiven Bewusstseins in eine Strömung, die ihn mit Leichtigkeit dorthin trägt. Man nennt das auch das Gesetz der Anziehung.

Diese Fokussierung ist die eigentliche Kunst. Und dafür ist wiederum der zuerst genannte, ganz „irdische“ Aspekt der Instinkte und Emotionen entscheidend. Letztlich ist es sogar weitgehend unwichtig, ob jemand sich mit dem genannten spirituellen Weltbild anfreunden kann – auch wenn das hilfreich sein kann, weil man dann eher beginnt, fast alles für möglich zu halten. Die Aussage, dass die Ausrichtung unseres Bewusstseins bestimmt, wie leicht ein Ziel erreichbar ist, stimmt jedenfalls auf allen Ebenen: biologisch, psychologisch und esoterisch. Das gilt es für Führungskräfte zu erkennen, zu nutzen und zu vermitteln.

„Kommunikation erzeugt eine gemeinsame Realitätsebene, die gemeinsame Realität erzeugt wiederum eine gemeinsame Kommunikationsbasis – eine Rückkopplungsschleife.“

Herr Starkmuth, Sie verwenden in Ihrem Buch den Begriff „Realostat“. Was verstehen Sie darunter genau? Inwieweit sind Führungskräfte „Realostaten“, wenn es um die Wahrnehmung der eigenen Aufgabe im Unternehmen geht? Welche Konsequenzen hat das für die Wahrnehmung des Unternehmens durch die Mitarbeiter?

Mit „Realostat“ bezeichne ich das Prinzip, das dafür sorgt, dass unsere persönliche – und im erweiterten Rahmen meines Weltbildes auch die äußere – Realität stabil bleibt, so wie ein Thermostat eine Temperatur stabil hält. Beide Mechanismen funktionieren über Rückkopplungsschleifen, daher die Analogie. Die Realostat-Schleife lautet: „Ich glaube, was ich sehe, und ich sehe, was ich glaube.“ Wenn man das kurz durchdenkt, ist klar, dass sich die eigene Wahrnehmung der Welt damit nur schwer ändern lässt. Der zweite Teil der Schleife – ich sehe, was ich glaube – ist den wenigsten bewusst, trifft aber selbst dann zu, wenn man meine metaphysische These außer Acht lässt, nach denen wir die Realität tatsächlich erst durch unser Bewusstsein erschaffen. Denn auch die etablierte Wahrnehmungspsychologie bestätigt, dass wir extrem selektiv das wahrnehmen, was unser Glaubens- und Emotionssystem für gültig und relevant hält. Ein Großteil unserer Wahrnehmung ist vom Gehirn konstruiert, nur ein geringerer Teil basiert direkt auf Sinnesdaten, und auch der ist selektiv ausgewählt.

Für Führungskräfte ist das besonders relevant, da sie mit ihrem persönlichen Realostaten nicht nur ihre eigene Wahrnehmung, sondern auch die ihrer Mitarbeiter füttern. Mitarbeiter nehmen ein Unternehmen nicht als abstraktes Etwas wahr – aus ihrer Sicht „sind“ die Führungskräfte das Unternehmen, denn sie treffen die wichtigen Entscheidungen und vermitteln das Selbstbild der Firma. Deshalb identifizieren sich Mitarbeiter auch nur dann mit dem Unternehmen, wenn die Führungskräfte das ebenfalls tun. Wobei das nur funktioniert, wenn die Führungskraft die umgekehrte Perspektive einnimmt und erkennt, dass die Mitarbeiter – sie selbst eingeschlossen – das Unternehmen „sind“. Führungskräfte spannen einen emotionalen Raum für die Mitarbeiter auf, der von den Emotionen der Führungskräfte getragen wird. Die Mitarbeiter gehen damit in Resonanz und schwingen mit, denn ihre Wahrnehmung richtet sich sehr stark auf die Führungskräfte – im Positiven wie im Negativen. Aus diesem kollektiven Bewusstsein entsteht die Arbeitsrealität. Beobachteter Egoismus erzeugt eigenen Egoismus als Abwehrreaktion. Beobachtete Menschlichkeit und ganzheitliche Führungskompetenz erzeugen Geborgenheit, Sicherheit und Zugehörigkeitsgefühl. Deshalb sind die viel gepriesenen „soft skills“ tatsächlich entscheidend für den nachhaltigen Erfolg von Führungskräften und damit des ganzen Unternehmens.

„Die meisten Menschen haben ihren Verstand ständig eingeschaltet und lassen ihn auf vollen Touren laufen … Das ist etwa so, als würden Sie die ganze Zeit mit einer laufenden Kreissäge in der Hand herumlaufen, die fürchterlichen Krach macht, aber in 99 % der Zeit nur leere Luft zersägt.“

Herr Starkmuth, Sie sagen, dass die heutige Zeit von uns allen verstärkt den Einsatz des Bewusstseins statt des Verstandes fordert. Trifft das auf Führungskräfte, die meist als „Problemlöser“ agieren sollen, auch zu?

Management braucht sicherlich die meiste Zeit über einen wachen und leistungsfähigen Verstand. Dennoch oder gerade deshalb gilt meine Empfehlung auch hier, den Verstand nicht als allgegenwärtige Notwendigkeit zu sehen, sondern ihn sehr gezielt und nur für seinen eigentlichen Zweck einzusetzen, nämlich praktische Aufgaben im Hier und Jetzt zu lösen. Das erfordert Zentrierung und ein hohes Maß an Aufmerksamkeit für sich selbst. Und das wiederum ist keine Aufgabe für den Verstand, sondern geschieht genau dann, wenn das Bewusstsein sich nicht mehr auf die ständig mit den Hufen scharrende Problemlösungsmaschine in unserem Kopf fokussiert, sondern sich frei macht von äußeren Beobachtungszielen – und dazu gehören auch die Gedanken des Verstandes, denn Denken und Bewusstsein sind zwei völlig verschiedene Dinge. Bewusstsein beobachtet, ohne zu denken oder zu werten. Reines, freies Bewusstsein, das man in meditativen Zuständen erleben kann, nimmt daher letztlich viel mehr wahr als eines, das sich auf den Verstand mit seiner durch persönliche Logik begrenzten und durch Emotionen manipulierten Sichtweise beschränkt.

Deshalb ist es gerade für Führungskräfte sinnvoll, sich während und außerhalb der Arbeitszeit Auszeiten für die Zentrierung zu gönnen, beispielsweise durch kurze Meditationen oder Spaziergänge in einer Umgebung, die nichts mit der Arbeit zu tun hat, und einmal nicht an Aufgaben und Probleme zu denken, sondern nur zu beobachten, in sich selbst hineinzuspüren und die dabei aufkommenden Gedanken einfach vorbeiziehen zu lassen. Das trainiert den Geist, den Verstand nur auf Abruf einzusetzen, während er bei den meisten Menschen ständig mehr oder weniger unbewusst mit Vergangenheitsanalyse und Zukunftsprognosen beschäftigt ist – meist aus irrationalen Ängsten heraus, die uns nicht einmal bewusst sind. Reines Bewusstsein öffnet Türen für ganz neue Lösungsansätze, die oft ganz intuitiv kommen. Um sie dann umzusetzen, darf der Verstand wieder aktiv werden – mit klarem Ziel im Hier und Jetzt.

Aber auch im ganz normalen Arbeitsprozess, etwa in Mitarbeitergesprächen, ist es eine sinnvolle Tugend, immer wieder kurz innezuhalten und in sich hineinzuspüren, insbesondere wenn negative Emotionen aufkommen wollen. Eine einzige meditative Sekunde, nach der man dann aus innerer Klarheit heraus die richtige Antwort gibt, kann das Schicksal eines ganzen Unternehmens entscheiden.

„Rudelkämpfe sind heute nicht mehr zeitgemäß. Unsere Gesellschaft ist zu komplex, als dass die von der Natur vorgesehenen einfachen Sozialstrukturen noch funktionieren könnten […] bei Affen zählen nur wenige Kriterien für die Rangordnung, etwa wer am stärksten ist oder wer den buntesten Hintern hat. Bei Menschen lässt sich keine einfache Rangordnung mehr etablieren, weil jeder auf ganz verschiedenen Gebieten Stärken und Schwächen hat.“

Herr Starkmuth, Sie schlagen in Ihrem Buch eine „Hierarchie nach Stärken und Schwächen“ vor. Wie könnte das in einem Unternehmen konkret aussehen? Was könnte sich eine Führungskraft im Bezug auf die Mitarbeiter für 2012 vornehmen?

Gerade im Arbeitsleben neigen wir nach wie vor dazu, in starren Hierarchien zu denken: Der Chef befiehlt, die Untergebenen führen aus, der Chef berichtet an seinen Oberchef. Das basiert letztlich auf der simplen Rudelhierarchie, die man etwa bei Wölfen und Affen noch beobachten kann. In der Realität ist man zum Glück oft schon etwas flexibler, aber das Klischee ist nach wie vor mächtig. Dabei könnte heute in unserer komplexen Arbeitswelt fast jeder, wenn er nur am richtigen Ort und in der richtigen Weise eingesetzt würde, mit seinen persönlichen Stärken eine „gefühlte Chefposition“ auf seinem persönlichen Kompetenzgebiet einnehmen. Das wirkt sich emotional ungemein positiv aus und erhöht damit wiederum Leistung und Erfolg. Und – auch wenn man zunächst vielleicht das Gegenteil vermuten würde – es gibt dann weniger Kämpfe um die Hackordnung im Rudel. Wer seine Kompetenzen anerkannt sieht, kann auch die von anderen leichter anerkennen. So entsteht optimales Teamwork ohne Reibereien.

Häufig liegen zu viele Entscheidungsbefugnisse bei den Führungskräften. Dabei soll eine Führungskraft, wie der Name schon sagt, einfach nur führen. Führen heißt: Menschen verstehen und motivieren, Talente erkennen und fördern, Probleme erkennen und Konflikte moderieren. Dafür braucht es bestimmte Fähigkeiten und eine Begeisterung genau dafür.

Deshalb wird ein Ingenieur oft unglücklich, wenn er aufgrund seiner langjährigen, guten technischen Arbeit zum Abteilungsleiter aufsteigt und plötzlich führen soll, statt zu erfinden und zu basteln. Vielleicht taugt gerade der technisch weniger begabte Kollege viel besser zum Leiter, weil er dafür geradezu geschaffen ist, auch wenn er erst drei Monate im Unternehmen ist. Oft nehmen Führungskräfte ihren Mitarbeitern auch fachliche Aufgaben ab und überlasten sich selbst damit, statt im Team Kompetenzen aufzubauen und die Arbeit von den dafür Begabtesten machen zu lassen.

Man könnte die Organisationshierarchie viel stärker von der Kompetenzhierarchie trennen. Das bedeutet, Mitarbeitern mehr freie Hand und Entscheidungsbefugnis in dem Bereich zu geben, in dem sie kompetent und motiviert sind. Frei nach Willy Brandt würde ich als Motto für 2012 vorschlagen: „Wir wollen mehr Eigenverantwortung wagen!“

Herzlichen Dank für das Gespräch und Ihnen nur das Allerbeste für 2012.