Die Entstehung der Realität – Interview mit Jörg Starkmuth

Interview mit Jörg Starkmuth von Oliver Karounis, erschienen im City-Magazin port01 Krefeld, 2010

Hallo Herr Starkmuth, Ihr Buch ist wirklich sehr interessant – es legt dem Leser nahe, sein Selbstbild zu hinterfragen und sich auf den Weg der Erkenntnis zu begeben. Die Einleitung beginnt mit „Dieses Buch sagt nicht die Wahrheit“ – Sie sind der Meinung, dass es viele verschiedene Wahrheiten gibt. Kann das auch der Grund sein, warum es so viele Missverständnisse und Probleme auf dieser Welt gibt?

Auf jeden Fall. Menschen glauben gern an „objektive“ Wahrheiten, und natürlich ist dann immer die eigene Wahrheit die „einzig wahre“. Im Grunde haben alle Menschen die gleichen Ziele, nämlich Überleben und Glück. Nur der Weg dorthin sieht für jeden anders aus, was von den persönlichen Erfahrungen und sozialen Konventionen abhängt. Würden wir uns auf die tatsächlichen Ziele konzentrieren und nicht auf die scheinbaren Notwendigkeiten auf dem Weg dorthin, gäbe es fast keine Probleme mehr. Denn Konflikte entstehen fast immer aus der Kollision inkompatibler Glaubenssysteme.

Tatsächlich gibt es aber keine absolute Wahrheit. Nicht einmal das, worüber sich fast alle einig sind – z. B. die Naturgesetze – sind ultimative Wahrheiten. Es sind Denksysteme, die in einem gegebenen Rahmen funktionieren – im Grunde Schöpfungen eines kollektiven Bewusstseins. Man sieht an sogenannten „Wundern“, dass auch diese Systemgrenzen wandelbar sind.

Sie widmen in ihrem Buch dem Thema Zeit viel Aufmerksamkeit und stellen die These auf, dass eine Vergangenheit genauso wenig existiert wie eine Zukunft. Das unterstreichen sie mit einem Zitat von Augustinus („Die Zeit kommt aus der Zukunft, die nicht existiert, in die Gegenwart, die keine Dauer hat, und geht in die Vergangenheit, die aufgehört hat zu bestehen“). Bitte erklären sie das einmal.

Wie so vieles hängt auch diese Sichtweise von der Definition des Wortes „existieren“ ab (wir müssen immer im Hinterkopf behalten, dass Sprache nur ein begrenztes Hilfsmittel bei der Erkenntnisfindung ist). Im engeren Sinne des Wortes existiert für uns immer nur der gegenwärtige Moment. Die Vergangenheit existiert nur in Form von Erinnerungen, die Zukunft nur in Form von Wahrscheinlichkeitsprognosen. Trotzdem befasst sich unser Verstand im Alltag ständig mit Vergangenheit und Zukunft – das gehört zu unserem Überlebensprogramm, aber in einer Welt, in der das eigene Überleben eher selten auf dem Spiel steht, erschaffen wir uns damit nur jede Menge unnötige – weil irreale – Probleme, z. B. in Form von Ärger über etwas, das geschehen und damit nicht mehr aktuell ist, oder Angst vor etwas, was passieren könnte, aber im Hier und Jetzt ebenso wenig real ist wie das Vergangene. In der Gegenwart haben wir fast nie ein echtes Problem.

Wenn wir „existieren“ aber wieder weiter fassen, dann kommen wir plötzlich zu der Erkenntnis, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft tatsächlich parallel bestehen. Die Physik sagt uns, dass es zwischen Vergangenheit und Zukunft keinen Unterschied gibt – wir erschaffen den Unterschied selbst, indem wir sozusagen als beobachtendes Bewusstsein an einem zeitlosen Kontinuum von Weltzuständen entlangwandern und immer nur einen kleinen Ausschnitt davon wahrnehmen, den wir als gegenwärtigen Moment erleben. So erschaffen wir unsere persönliche Zeit und unsere Lebensgeschichte. Eine absolute Zeit gibt es nicht – das hat Albert Einstein schon vor über 100 Jahren erkannt.

Ist es richtig, dass unser Bewusstsein den Fokus unserer Wahrnehmung steuert (durch Instinkte und Lebenserfahrungen) und demnach entscheidet, wie wir Situationen erleben und empfinden?

Bewusstsein an sich „tut“ gar nichts außer zu beobachten. Es denkt nicht, es fühlt nicht und es handelt nicht – es beobachtet Gedanken, Gefühle und Handlungen und erschafft sie dadurch als erlebte Wirklichkeit. Der Fokus unserer Wahrnehmung allerdings – also das, worauf sich diese Beobachtung richtet – wird, wie Sie richtig sagten, bei den meisten Menschen vorrangig von Instinkten und Erfahrungen gesteuert. Deshalb greift auch hier wieder unser angeborenes und antrainiertes Überlebenssystem, das dazu neigt, unsere Wahrnehmung hauptsächlich auf potenzielle Probleme zu richten, damit wir diese lösen und damit unser Überleben und Glück sichern. Dummerweise sind diese Probleme wie gesagt fast alle irreal, sodass uns unser Überlebenssystem dadurch eher mehr statt weniger Probleme beschert. Unsere selektive Wahrnehmung und Interpretation ist extrem mächtig – sie kann aus ein und derselben Situation ein großes Unglück oder ein großes Glück zaubern.

Gibt es Ihrer Auffassung nach unterschiedliche Situationen bzw. Versionen der Realität, die parallel verlaufen? Und was ist dann dafür verantwortlich, für welche Parallelrealität ich mich entscheide?

Die These der parallelen Realitäten ist ein populärer – wenn auch nicht allgemein anerkannter – Ansatz zur Deutung der Quantentheorie. Deren Formeln können nämlich nicht erklären, warum eine bestimmte Realitätsvariante zur erlebten Wirklichkeit wird, während die Quanten-Wahrscheinlichkeitsverteilung auch andere Realitäten erlauben würde. Die etablierteste Deutung schreibt dieses Auswahl schlicht dem Zufall zu – der wiederum lässt sich aber innerhalb der Quantentheorie nicht erklären. Das Viele-Welten-Modell hingegen geht davon aus, dass alle Möglichkeiten parallel existieren und jede Variante eines Beobachters fälschlich glaubt, ihre Realität sei die „einzig wahre“. In diesem Modell gäbe es aber keinen freien Willen, wir hätten keinen wirklichen Einfluss auf unser Schicksal, weil ja immer alles parallel geschieht.

Das von mir vorgeschlagene Modell stellt einen Mittelweg dar. Darin existieren die parallelen Realitäten als multidimensionaler Raum von Möglichkeiten, und erst unser Bewusstsein – als reiner Beobachter – wählt eine davon als erlebte Wirklichkeit aus – und zwar immer die, auf die es seine Aufmerksamkeit richtet. Diese Wirklichkeit ist umso vorhersehbarer, je weniger „Kurven“ das Bewusstsein im Möglichkeitsraum nimmt. Wer in starren Glaubensmustern festhängt, wird immer wieder ähnliche Realitäten erleben. Wer sich auf Probleme konzentriert, wird Probleme erleben. Wer sich auf Glück konzentriert, wird Glück erleben. Das funktioniert zum Teil über die schon erwähnt selektive Wahrnehmung und Interpretation, aber es gibt auch einen experimentell nachgewiesenen direkten Einfluss des Bewusstseins auf den sogenannten Zufall und damit auf physikalische Ereignisse. Erfahrungen wie die berühmten „Bestellungen beim Universum“ deuten darauf hin, dass dieser Einfluss sich auch im Alltag signifikant auswirken kann.

Wir sehen die Welt so, wie wir sie sehen wollen bzw. gewohnt sind, sie sehen zu müssen, um nicht Irritationen hervorzurufen. Abweichende Wahrnehmungen werden Ihrer Meinung nach vom Unterbewusstsein direkt korrigiert. Eigentlich erscheint es schade, dass der Blick über den geistigen Tellerrand somit versperrt bleibt, oder? Und sogenannte Wahnvorstellungen und Halluzinationen (hervorgerufen durch Krankheit oder Drogen) bleiben dann im Normalzustand aus.

In gewissen Grenzen ist dieses Korrekturprinzip – ich nenne es „Realostat“ – natürlich sehr nützlich. Wenn jeder nur in seiner isolierten Realität leben würde, wären ja weder sinnvolle Kommunikation noch gesellschaftliches Zusammenleben möglich. Etwas mehr Flexibilität auf dem persönlichen Weg durch den Möglichkeitsraum täte den meisten Menschen allerdings gut und würde sich auch positiv auf die Gesellschaft auswirken, weil die erwähnten Konflikte durch inkompatible Glaubenssysteme dann wegfallen würden. Wir brauchen also einen gemeinsamen Realitätsrahmen, aber innerhalb dessen ist es erstrebenswert, die Vorstellung von unverrückbarer Wahrheit so weit wie möglich loszulassen. Irgendwann wird es dann auch möglich sein, den gemeinsamen Rahmen zu erweitern und eine kollektive Bewusstseinsevolution zu bewirken – dann könnte sich womöglich sogar die sogenannte „objektive“ Realität zu etwas Neuem wandeln.

Nach Ihrer Betrachtungsweise ist das Bewusstsein, welches ja für die Wahrnehmung der eigenen Realität zuständig ist, nicht zwingend mit dem Körper respektive Gehirn verankert. Berichte von Menschen, die über ihre Nahtoderfahrungen erzählen, unterstreichen diese These. Was erwartet uns Ihrer Meinung nach, wenn wir uns gänzlich vom Körper trennen, sprich: wenn wir sterben?

Es ist ein wenig gewagt, dazu ohne eigene Erfahrungen etwas sagen zu wollen. Ich kann mich da nur an dem orientieren, was die von Ihnen erwähnten Nahtodberichte und spirituelle Quellen uns mitteilen. Demnach ist das Bewusstsein – oder die Seele, wie man sagt – in der Lage, auch nach dem Abschalten des Gehirns die physikalische Welt in ähnlicher Form wahrzunehmen. Gleichzeitig nimmt es offenbar Kontakt mit anderen Bewusstseinsinstanzen auf, die z. B. als verstorbene Verwandte erlebt werden. Die Seele hat dann die Möglichkeit, sich an einen neuen Körper zu binden – oder auch an den alten, falls er wiederbelebt wird – oder in eine andere Existenzform überzugehen, die von denjenigen, die sich bis an deren Rand begeben haben, als sehr beglückend beschrieben wird. Wie es hinter dieser Grenze aussieht, darüber wage ich nicht zu spekulieren. Aber es sicher eine sehr spannende Erfahrung.

Das Bewusstsein scheint für die eigene Realitätserschaffung eine sehr wichtige Rolle zu spielen. Wie könnte ich selbiges erweitern oder steuern, um mir eine positivere Außenwelt zu konstruieren?

Eine positive Außenwelt ist immer die Konsequenz bzw. Reflexion einer positiven Innenwelt. Wer die Außenwelt verändern will, um dadurch glücklicher zu werden, ist zum Scheitern verurteilt. Es geht vielmehr darum, zu einer positiven Wahrnehmung zu gelangen – die Außenwelt zieht dann auf allen Ebenen mit, subjektiv wie „objektiv“.

Hierzu hilft es, das Wahrnehmen der angenehmen Seiten des Lebens immer wieder zu trainieren – das Gehirn gewöhnt sich irgendwann daran und verbringt dann mehr Zeit mit dem Erleben der 90 % des Lebens, die in Ordnung sind, statt sich wie bisher die meiste Zeit mit den 10 % zu befassen, die verbesserungswürdig wären. Eine positive Grundstimmung verhilft auch viel eher zu kreativen Lösungen für diese 10 %.

Der zweite Tipp ist, sich einmal klar zu machen, was wirklich hinter unseren Wünschen und Ängsten steckt – im Endeffekt nämlich immer ein instinktives Grundbedürfnis bzw. die Angst, dass es nicht erfüllt wird, z. B. Angst vor Einsamkeit. Betrachtet man dann die tatsächliche Situation, stellt sich heraus, dass unser Überlebenssystem hier Bewertungsmuster aus der Vorsteinzeit anwendet, die für unsere heutige Welt, in der die elementaren Bedürfnisse fast immer erfüllt sind (oder sich problemlos würden erfüllen lassen), nicht mehr angemessen sind. So entlarven wir fast alle Probleme als Denkfehler.

Und schließlich gibt es noch den meditativen Ansatz: den Geist leeren oder ihm eine Aufgabe in der Gegenwart geben, auf die er sich konzentrieren muss – das kann z. B. durchaus auch die Ausübung eines Hobbys sein. Dadurch hört der Verstand auf, sich in Vergangenheit und Zukunft aufzuhalten und künstliche Scheinprobleme zu erschaffen.

Abschließend noch eine Frage: Falls es so ist, dass jeder seine Realität selbst bestimmt, warum leben dann alle in ein und derselben Welt mit allem Leid und allen Problemen, die es gibt?

Wir leben nicht in ein und derselben Welt, sondern in sechs Milliarden verschiedenen. Wenn Sie in meiner Welt leben würden, wären Sie ich. Es gibt nur einen gemeinsamen Rahmen, wie schon erwähnt. Bewusstsein ist in meinem Weltbild kein individuelles Phänomen, sondern die Grundlage aller Existenz. Im Grunde ist alles, was existiert, eine einzige, gigantische Bewusstseinsmatrix. Die umfassendste Ebene dieser Matrix könnte man als kosmisches Bewusstsein oder Gott bezeichnen. Sie unterteilt sich in Teilaspekte, die wiederum andere Teilaspekte als „außerhalb“ ihrer selbst wahrnehmen und damit als erlebte Wirklichkeit erschaffen – Aufspaltung in „Subjekt“ und „Objekt“. Das setzt sich fort wie in einem Fraktal oder einem Baum, der sich vom Stamm bis in die kleinsten Zweige immer feiner differenziert. Die dickeren Äste des Baumes erschaffen den gemeinsamen Realitätsrahmen für die kleineren Zweige des jeweiligen Astes. Einer dieser Äste hat z. B. für uns Menschen das System der von uns beobachteten Naturgesetze geschaffen, das unserem gemeinsamen Realitätsrahmen zugrunde liegt.

Die sogenannten Probleme in der Welt sind nur für diejenigen Menschen Probleme, die darunter leiden. Solange das Leiden dominiert (dazu zählt auch das Mitleiden!), wird es keine dauerhaften Lösungen geben. Erst wenn die Situation stattdessen als Aufgabe betrachtet wird, motiviert von einem positiven Ziel, kann echte Verbesserung einsetzen. Es ist daher sogar gut, dass nicht alle in derselben Welt leben, denn sonst könnte niemand den ersten Schritt zu diesem Bewusstseinswandel tun.