Nachtigallensteine

13,90 

Von Petra Hofmann

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Nach Nibelungenentzündung geht es ebenso schräg und skurril weiter – mit 46 neuen Zwischendurchgeschichten aus einem nicht ganz alltäglichen Alltag mit einer mehr oder weniger wohldosierten Prise Wahnsinn: ein Schachspiel, das aus allen Fugen gerät; fragwürdige (aber nicht zwingend verzehrwürdige) Substanzen aus dem Thermowix; Lover, die ihr Geld im Darknet verdienen; Gottes hauseigener Feinkostladen; astrale Pferde, küssende Kröten, homöopathische Dinosaurier und ein nicht mehr ganz so junger Vater, der versehentlich zum Terroristen wird. Fazit: Zum Kaputtlachen und Heilheulen.

Softcover, 204 Seiten

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Nachtigallensteine

Der Marder hat einen Leberschaden


Leseprobe:

Der frühe Vogel fängt den Wurm. Oder besser: Ich fange dem frühen Vogel den Wurm. Genauer gesagt, dem Vogelbaby. Da ist eines aus dem Nest gefallen. Ein kleines, süßes, vollkommen federfreies Vogelbaby. Vielleicht war es zu neugierig und wollte schon in die Welt hinaus. Oder es wollte seinen Horizont erweitern und hat mal über den Tellerrand geschaut. Oder es war einfach zu laut und die Vogelmama hat es vor die Tür gesetzt. Nest zu voll? Wie dem auch sei – nun ist es hier bei uns.

Noch steht nicht fest, was es mal werden soll. Könnte ein Amselkind sein oder eine Wachholderdrossel? Aber vielleicht auch eine Kohlmeise oder ein Straußenbaby. Das kann man jetzt noch gar nicht so genau sagen. Dem Appetit nach muss es sich aber um einen Strauß handeln.

Das Füttern ist eine Angelegenheit für sich. Es kann nämlich noch nicht richtig essen. Die Kinder haben Würmer gesammelt, aber laut Internetrecherche sollten die leicht vorverdaut sein, bevor die Babyvogelspeiseröhre diese aufnehmen kann. Und tief in den Rachen des Vogels soll der Wurmbrei.

Und nun steh ich da. Vor mir ein Schälchen mit Würmern, welche die Kinder im Garten gefunden haben. Damit mach ich jetzt genau was? Kauen und wieder ausspucken? Und was ist mit dem Wurm? Der hat vielleicht auch Familie? Wer kümmert sich nun um die Wurmbabys? Ich muss fast heulen bei dem Gedanken, dass jetzt ganze Familien auseinandergerissen wurden, und bitte meine Kinder, die Würmer wieder ganz genau dorthin zu bringen, wo sie sie hergeholt haben. Sie verdrehen die Augen, aber ich dulde hier kein „Ja, aber …“.

Das Straußenkind schaut mich mit seinen geschlossenen Augen hungrig an. Sein Schnäbelchen zuckt. Da muss jetzt was rein. Ich nehme der Katze das Katzenfutter weg, püriere es zu Brei und fülle es in eine leere Spritze. Der Katze gefällt dies leider nicht. Sie ist bereits auf dem Weg, sich den Vogel zu schnappen, um ihn ebenfalls zu Brei zu pürieren.

Ich gebe mir größte Mühe, eine gute Vogelmutter zu sein, aber der Strauß macht den Schnabel einfach nicht auf. Vielleicht bin ich aber auch nur eine Rabenmutter und kann nur Rabenkinder und keinen Strauß?

Ich versuche es mit: „Ein Löffelchen für die Katze …“, aber er will nicht. Oder er weiß nicht wie. Laut Google drückt eine richtige Vogelmutter dem Nachwuchs den Schnabel auseinander, um dann den Speisebrei hineinzubefördern. Das versuche ich jetzt auch – mittels Fingernägeln und Pinzette. Und es funktioniert. Gefühlte zwei Stunden später ist die erste Mahlzeit im Vogelbauch. Und ich bin gestresst.

Da so ein Vogelkind unglaublich schnell wächst, braucht es auch unglaublich viel Nahrung. Wir wiederholen die Prozedur etwa alle zwanzig Minuten. Und zwar von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang. Hat jemand eine Vorstellung, wann im Frühjahr die Sonne aufgeht? In aller Frühe steh ich da, noch nicht fähig, die Augen zu öffnen, und zermalme Katzenfutter. Ich flehe die Sonne an, morgen später mit dem Scheinen zu beginnen, aber sie hat kein Erbarmen mit mir. Alle zwanzig Minuten kommt ein „Piep!“ und ich sorge für Nachschub. Meine Kinder unterstützen mich dabei und übernehmen nach Absprache die Früh- oder Spätschicht.

Die Nachtruhe schrumpft auf einen überschaubaren Zeitraum zusammen, was mir zwei Wochen später einen Anruf aus der Schule beschert. „Ihre Tochter nimmt Drogen!“, erklärt mir die Lehrerin. Jedenfalls sähe sie so aus. Ich erkläre ihr, dass sie zurzeit ihr Nachtlager mit einem Strauß teilt. „Nehmen Sie etwa auch Drogen?“, will die Frau wissen. Wozu noch Drogen? Ist doch schon abgedreht genug hier.

Der Piepmatz wächst und gedeiht proportional zu unserer Erschöpfung. Wir machen alles, was auch Vogeleltern tun würden. Wir bringen ihm bei, wie man Körner pickt, und die Kinder springen abwechselnd vom Bett, um ihm zu zeigen, wie das Fliegen funktioniert. Und dann – vier Wochen später – ist es endlich so weit. Unser Vogelbaby wird flügge. Wir bringen es in den Garten, dorthin, wo noch andere Vögel sind.

Während sich die Kinder hier und da ein Tränchen aus dem Gesicht wischen, suche ich mein Bett auf. Schlafen – jetzt einfach nur schlafen. Und zwar von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang. Und dazwischen auch.

Der Strauß ist übrigens ein Spatz geworden.


Zusätzliche Information

Gewicht 407 g
Größe 21 × 14,8 × 1,5 cm
Seiten

204

Einband

Softcover

Auflage

1. Auflage, 2019

ISBN

978-3-947132-09-6